Poetische Technologien

18.08.2025

Warum bei den Tech-Giganten im Silicon Valley Innovation und Risikobereitschaft zurückgehen und Technologie zunehmend der Aufrechterhaltung bestehender Strukturen statt dem Schaffen neuer Möglichkeiten dient 👇

Letzte Woche hatte ich einen Artikel der New York Times-Reporterin Kate Conger in meiner Mailbox. In “So Long, Tech’s Dream Jobs” beschreibt sie, wie sich Apple, Google oder Meta, einst die Kreativzentralen der Welt, schleichend in riesige Bürokratien verwandeln. Aus der Aufbruchsstimmung der Web-2.0-Ära ist ein engmaschiges Netz aus komplexen Verwaltungssystemen, Angst und Effizienzlogik geworden.

Besonders eindrücklich zeigt sie dies am Beispiel einer Google-Mitarbeiterin auf, die 2007 als Software Engineer in einem scheinbaren Traumjob gestartet ist: großzügige Boni, volle Transparenz über die Infrastruktur, freie Wahl bei Projekten. Heute, als Managerin, erlebt sie eine andere Realität. Boni sind geschrumpft, Informationen werden zurückgehalten, Leistungsbeurteilungen drücken auf Mitarbeitende, und die Atmosphäre ist von Angst geprägt. Ein Zeugnis dafür, wie Tech-Arbeiter:innen zunehmend zu Zahnrädern in Riesenmaschinen werden. “It’s the shut up and grind era” - so bringt es Kate Conger auf den Punkt.

David Graeber schreibt dazu in seinem Buch “Bürokratie: Die Utopie der Regeln”: “Im digitalen Zeitalter wächst die Sehnsucht nach Ordnung, und im gleichen Maße nimmt die Macht der Bürokratien über jeden Einzelnen von uns zu. Dabei machen sie unsere Gesellschaften keineswegs transparent und effizient, sondern dienen vor allen elitären Gruppeninteressen. Kapitalismus und Bürokratie sind einen verhängnisvollen Pakt eingegangen und könnten die Welt in den Abgrund reißen.”

Für mich ist dieser Artikel ein Anlass, über die bisherigen 27 Jahre meiner Berufstätigkeit nachzudenken, in denen ich die Zuspitzung dieser technologischen Bürokratisierung miterlebt und sicherlich auch auf die ein oder andere Weise mitgestaltet habe. Als ich im Jahr 1998 mit Beetlemania, einer interaktiven Rallye zur Markteinführung des New Beetle, mein erstes Digitalprojekt umsetzen durfte, waren wir von Bürokratisierung noch weit entfernt. In der Frühphase des www als Massenmedium ging es vor allem darum, kreativ zu sein und Nutzer:innen mit guten Ideen zu begeistern.

Dieses Klima begann sich jedoch schon bald zu ändern. Nach dem DotCom-Crash im Jahr 2000, bei dem zahllose Internet-Startups (damals Dot-Coms genannt) pleite gingen und der Markt der Neuen Medien komplett crashte, wuchs das Bedürfnis der Anleger:innen nach Sicherheit. Nun ging es verstärkt um Geschäftsmodelle, die auch wirklich funktionierten. 

Mit fortschreitender Digitalisierung wuchsen außerdem die Möglichkeiten, Verkaufsprozesse zu steuern und Nutzer:innenverhalten zu lenken. Das aufkommende Cloud Computing ermöglichte eine stetig effizientere Verarbeitung von immer größeren Datenmengen und damit auch ganz neue Möglichkeiten zur Analyse.

Die Web 2.0-Ära, in der Nutzer:innen immer stärker mit digitalem Content interagieren konnten, brachte Prozesse wie Matchmaking, Empfehlungssysteme und Algorithmen hervor. Die weitere Entwicklung digitaler Technologien wurde wesentlich vorangetrieben durch den Wunsch nach Kontrolle, Effizienzlogik und Standardisierung. So entstand neben der technologischen Entwicklung ein weiterer hochrentabler Geschäftsbereich: Die digitale Unternehmensberatung mit dem Ziel, Arbeitsprozesse effizienter zu machen und Verkaufszahlen zu steigern. Der entscheidende Hebel dafür war die Einführung neuer Software-Lösungen, mit denen sich Unternehmen besser steuern lassen sollten.  Das in Deutschland gegründete Enterprise Resource Planning-System SAP ist hierfür vermutlich das eindrucksvollste Beispiel.

Laut einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom April 2025 ist SAP der wertvollste Konzern Europas. Mehr als hunderttausend Berater (hier lohnt es sich ausnahmsweise nicht, zu gendern) bedienen eine Vielzahl von Kunden in ganz Europa, mit dem Ziel schneller, besser und rentabler zu werden. 

Aus dem durchaus nachvollziehbaren Wunsch nach Effizienzsteigerung haben sich im Laufe der Jahre Tools entwickelt, die sich auch gegen diejenigen richten, die sie ursprünglich entwickelt haben: In Tech-Unternehmen ist das Performace-Tracking von Mitarbeitenden zum Standard geworden. Dies wird nicht nur in Kate Conger’s eingangs zitiertem Artikel beschrieben, sondern bereits auch in früheren Meldungen, wie etwa in diesem Artikel der Zeitschrift Wired: Hier geht es darum, wie jede Bewegung von Mitarbeitenden in Amazon-Warehouses getrackt wird. “Amazon Watches Its Workers and Waits for Them to Fail” lautet die Zusammenfassung dieser dystopisch anmutenden Praktiken.

Technologische Bürokratisierung entsteht aber auch in einer Disziplin, die paradoxerweise genau diese “Versteinerung” von Rollen und Prozessen zum Feindbild erklärt hatte: Die moderne Organisationsentwicklung wurde mit Change Management-Prozessen, agilen Methoden wie SCRUM, Workflow- und Ticketing-Systemen ausgestattet, die genau das verhindern sollten, was sie oftmals als Nebeneffekt mitproduzieren, nämlich standardisierte Abläufe und komplexe Genehmigungs- und Dokumentationsketten.

Wer profitiert eigentlich langfristig davon? Globalen Konzernen, autoritären Staaten und antidemokratischen Bewegungen ist die zunehmende Bürokratisierung sehr willkommen. Sie erlaubt ihnen, ihre oftmals undurchsichtige Agenda besser und schneller umzusetzen.

Palantir, die US-amerikanische Analyseplattformen für Polizei, Geheimdienste oder Behörden, die personenbezogene Daten systematisch verknüpfen, um Verhalten messbar zu machen, ist ein viel diskutiertes, aktuelles Beispiel. Palantir verknüpft riesige Datenmengen aus unterschiedlichen Quellen und macht dadurch umfassendes staatliches und kommerzielles Profiling sowie präzise Kontrolle von Individuen möglich. 

Dass es solche Software irgendwann geben würde, ist nicht überraschend. Der Skandal ist, dass es in Deutschland Politiker:innen gibt, die sich trotz Bedenken des Bundesverfassungsgerichts für den Einsatz dieser Software stark machen. Von Alexander Dobrindt bis Jens Spahn zeigt man sich aufgeschlossen bis unterstützend, teils mit hanebüchenen Argumenten. 

Bürokratisierte Technologien und überbordende Verwaltungsstrukturen haben oft einen paradoxen Effekt: Sie dienen zwar formal der Kontrolle, schaffen aber gleichzeitig undurchsichtige Strukturen, die Machtmissbrauch und Korruption verschleiern können.

Ein anschauliches Beispiel aus Deutschland ist die CDU-Maskenaffäre während der Pandemie. Offiziell gab es strenge Vergaberegeln und bürokratische Prozesse zur Beschaffung von Schutzausrüstung. In der Praxis jedoch nutzten manche Akteure, darunter Lobbykontakte und Netzwerke im politischen Umfeld von Jens Spahn, genau diese bürokratischen Strukturen, um Geschäfte zu verschleiern. Die Komplexität der Verträge, Ausschreibungen und Zwischeninstanzen machte es schwierig, Transparenz herzustellen und Verantwortlichkeiten nachzuvollziehen.

Die Kernmechanismen der Bürokratisierung sind immer gleich: Bürokratie erschafft eine formale Ordnung, in der alles „nach Regeln“ abläuft. Gleichzeitig erzeugt sie eine undurchsichtige Komplexität, in der persönliche Netzwerke, Interessenkonflikte oder Vetternwirtschaft schwer erkennbar sind. Digitale Tools, Datenbanken und standardisierte Prozesse verstärken dies, weil sie Entscheidungen formal dokumentieren, aber persönliche Hintergründe oder Interessensbindungen nicht sichtbar machen.

Bürokratien wachsen im digitalen Zeitalter nicht nur, um Effizienz zu sichern, sondern auch um Macht zu konsolidieren. So wird es möglich, korruptes Verhalten hinter einem scheinbar legalen Schleier zu verstecken. 

Bürokratien verschwinden nicht von alleine. Es braucht kritische Bürger:innen und Organisationen, die Lobbyinteressen, Machtmissbrauch und Vetternwirtschaft sichtbar machen. Am Ende dieses Artikels ist ist nur eine kleine Auswahl von Organisationen, die diesen Job in Deutschland übernehmen und die auf breite Unterstützung angewiesen sind. Wichtig ist, dass die Arbeit dieser engagierten Teams sichtbar wird und den öffentlichen Diskurs mitbestimmt. Markus Beckedahl, netzpolitischer Aktivist und re:publica-Mitgründer, hat in diesem Jahr das Zentrum für Digitalrechte und Demokratie gegündet, mit dem Ziel, die "Erzählmacht von Big Tech zurück zu erobern". Genau darum geht es bei der Debatte um die Bürokratisierung von Technologien: Diese Entwicklung nicht als gottgegeben zu betrachten, sondern ihr aktiv zu begegnen. Indem man sich einmischt, mit diskutiert, Parlamentarier befragt, relevante Inhalte teilt oder sich politisch engagiert. Wir müssen der oft unausweichlich scheinenden Technokratie für einige Wenige unsere eigene Vision von technologischer Nutzung entgegensetzen.

David Graeber hat immer wieder betont, dass Technologien nicht zwangsläufig in hierarchischen und entfremdenden Strukturen landen müssen, sondern auch als „poetische Technologien“ verstanden werden können – als Werkzeuge, die unser Leben nicht verengen, sondern erweitern. Technologien also, die Raum für Vorstellungskraft, Kooperation und gemeinsames Gestalten öffnen. Genau in diesem Spirit arbeitet die Poetic Technologies UG in Berlin, die ich 2023 mitgegründet habe. Das Tech-Startup entwickelt technische Infrastrukturen, die Transparenz und Sicherheit schaffen, ohne dabei die Handlungsfähigkeit derjenigen auszuschließen, die sie nutzen.

Wie kann man sich noch gegen die ausufernde Bürokratie stellen? Wer auf X nichts mehr posten mag, kann in Minutenschnelle zu Mastodon, BlueSky oder auch Farcaster wechseln und dort Inhalte in dezentralen Netzwerken teilen, statt Billionäre durch kostenlose Inhaltsproduktion immer noch reicher zu machen. Alle, die nach Alternativen zu Big Tech suchen, können schnell fündig werden, etwa in diesem im Juli 2025 erschienenen Artikel des Magazins Wire: Eine gut gemachte Auflistung von datenschutzkonformen Tools für 6 zentrale Anwendungsbereiche – von Kommunikation bis Cloud – im umfassenden Vergleich.

Und alle diejenigen, die etwas Zeit und/ oder Geld übrig haben, können diese Organisationen beitreten oder sie durch Spenden unterstützen:

Transparency International Deutschland e.V. bekämpft Korruption und macht undurchsichtige Verflechtungen in Politik und Wirtschaft transparent.

LobbyControl enttarnt verdeckte Lobbynetzwerke und fordert verbindliche Transparenzregeln.

Abgeordnetenwatch versetzt Bürger:innen in die Lage, Politiker:innen direkt zu befragen und deren Nebentätigkeiten zu prüfen.

FragDenStaat nutzt das Informationsfreiheitsgesetz (§ IFG), um politische Entscheidungen durch Einsicht in Dokumente nachvollziehbar zu machen bzw. zu hinterfragen.

netzwerk recherche betreibt investigativen Journalismus, deckt Korruptionsskandale und wirtschaftliche Verflechtungen auf.

Correctiv ist ein gemeinnütziges Recherchezentrum, das investigative Recherchen veröffentlicht und damit Interessenspolitik ans Licht bringt.

Digitalcourage kämpft gegen digitale Überwachung und für Grundrechte in der Informationsgesellschaft.

Chaos Computer Club (CCC) macht Missstände in Technik und Verwaltung sichtbar, testet und kritisiert staatliche Überwachungssysteme.

Zentrum für Digitalrechte und Demokratie stärkt digitale Grundrechte, fördert demokratische Kontrolle über digitale Räume und ist aktiv gegen die Dominanz großer Tech-Konzerne im öffentlichen Diskurs. 

Die Tech Workers Coalition macht sich für die Rechte von Tech-Arbeiter:innen stark und organisiert Kampagnen sowie Treffen.