Kollektives Kapital

13.04.2025

Der 15. September 2008, an dem die Investmentbank Lehman Brothers in den USA Insolvenz anmeldete, markiert nicht nur den Höhepunkt der letzten Finanzkrise, sondern gleichzeitig auch den Beginn einer umfassenden Finanzialisierung der Welt, in der alles – von Alltagsgegenständen über die Wohnung bis hin zu menschlichen Beziehungen – zur Ware wird.

Der aus der Finanzkrise resultierende Bankencrash war so tiefgreifend und erschütterte das Vertrauen in traditionelle Geldinstitute derart, dass für deren Rettung und Resozialisierung ein neues Narrativ elementar wichtig wurde: das "Wir" als Identifikationsfaktor und Bezugsgröße für kollektives wirtschaftliches Handeln. 

Während im Zuge des wirtschaftlichen Einbruchs Millionen Menschen ihre Jobs, Ersparnisse und Immobilien verloren, entstand aus dem Unmut über die riskanten Geschäfte und die Macht der Banken die kollektive Protestbewegung Occupy Wallstreet, die alle diejenigen hinter sich vereinte, die eine „Wirtschaft für die Menschen und von den Menschen“ wünschte. 

Die Forderungen, die auf den besetzten öffentlichen Plätzen erarbeitet wurden und anschließend um die Welt gingen, wurden jedoch unbeabsichtigt zur Steilvorlage eines in Bedrängnis geratenen Finanzkapitalismus, der dringend auf ein Facelift angewiesen war.

Damit wurde zu einem Zeitpunkt, als viele annahmen, die Wallstreet läge kraftlos am Boden, der Grundstein gelegt zu einer neuen, noch mächtigeren Strategie, bei der das Kollektiv, die Verbindung von Menschen und die Kraft der globalen Gemeinschaft eine wesentliche Rolle spielten – zumindest in der Erzählung. Die Wirtschaft „für den Menschen und von den Menschen“ entstand also tatsächlich, wenngleich ganz anders, als es der Occupy Wallstreet-Aktivismus beabsichtigt hatte:

Dank niedriger Eintrittsbarrieren bevölkerte die globale Gemeinschaft die digitalen Plattformen und verschmolz zusehends zu einer großen, homogenen Zielgruppe. Das neue Wir begann soziale Beziehungen und die punktgenaue Adressierung menschlicher Vorlieben in den Mittelpunkt der aufstrebenden Digitalwirtschaft zu stellen. Online-Communities wurden zum Zugpferd einer global vernetzten Riesenmaschine aus Content und Nutzerdaten. Das Wir wurde zum zentralen Faktor des Plattform-Kapitalismus.

Gibt es die so oft beschworenen kollektiven Strukturen im Zeitalter der Plattform-Ökonomie tatsächlich, oder ist das Ganze nur eine Marketing-Erzählung, die mithilft, die noch nie dagewesene Macht-und Geldkonzentration von Big Tech in ein mildes Licht zu tauchen?

Im Folgenden führe ich zur Veranschaulichung durch wesentliche Stationen der wirtschaftlichen Entwicklungen der vergangenen siebzehn Jahre nach der Finanzkrise 2008, in deren Verlauf  das Wir-Gefühl zum zentralen Motor eines neuen Kapitalismus – einem, der auf Plattformen, Daten und globalem Kollektiv basiert, entstand.

Vom Kapitalismus-Protest zum Plattform-Kapitalismus

Während Occupy Wall Street noch Plätze besetzte, um Alternativen zum Finanzsystem zu fordern, traten Plattformen wie Airbnb, Uber, Facebook oder Amazon ihren globalen Siegeszug an. Anfangs galten sie als Pioniere eines „smarten“, gemeinschaftsbasierten Wirtschaftens. Doch schon bald zeigte sich: Das neue Wir wurde nicht demokratisch organisiert – es wurde marktgerecht aufbereitet.

Digitale Plattformen agierten als Vermittler zwischen individuellen Bedürfnissen und globalen Angeboten. Möglich wurde dies durch mehrere technologische Treiber, vor allem Cloud Computing und Big Data. Dienste wie Amazons Elastic Compute Cloud machten Rechenleistung skalierbar, während Social Media-Plattformen Nutzer:innenverhalten sammelten, analysierten und für gezielte Werbung und algorithmisches Matchmaking nutzten.

Das digitale Kollektiv, wir alle, wurden so schrittweise zur Ressource: Unsere Posts, Klicks, Chats und Likes fütterten Empfehlungsmaschinen und ließen Plattformen zur präzisesten Werbemaschinerie der Geschichte werden. Das Wir war kein politisches Subjekt mehr, sondern vor allem eine wirtschaftliche Zielgruppe. 

Das Beste: Wir haben unsere Bilder, Videos, Meinungen und Präferenzen ganz freiwillig und ohne dafür bezahlt zu werden, auf digitale Plattformen hochgeladen. Wir haben uns damit die Rechte an unseren eigenen digitalen Kreationen absprechen lassen und es offensichtlich akzeptiert, dass unsere persönlichen Daten an Dritte weitergegeben werden. Damit haben wir mitgeholfen, die mächtigsten Tech-Konzerne der Geschichte zu bauen - leider ohne selbst daran beteiligt zu sein.

Sharing Economy: Teilen, damit andere profitieren

Ein besonders erfolgreiches Narrativ der Zeit ab ca. 2010 war die Sharing Economy. Sie versprach ein soziales, ressourcenschonendes Wirtschaften. Statt alles selbst zu besitzen, sollten Menschen Autos, Wohnungen, Bohrmaschinen oder Lastenräder gemeinsam nutzen. 

Doch das Teilen endete meist beim Gewinn: Während Anbieter:innen von Dienstleistungen ein paar Euro verdienten, konzentrierten sich die Profite und die Datenmacht bei den Plattformen. Was als gemeinschaftsorientiert begann, führte zu beispiellosen Monopolisierungen, steuervermeidenden Geschäftsmodellen und einer Entkopplung von unternehmerischer Verantwortung.

Der Autor Sascha Lobo brachte es 2014 auf den Punkt: Wir leben im Plattform-Kapitalismus. Ein System, das soziale Beziehungen und Alltagsaktivitäten kommerzialisiert, ohne demokratische Mitbestimmung oder Teilhabe.

Bitcoin, Blockchain & Web3

Ein Jahr nach dem Lehman Brothers-Kollaps, 2009, startete mit Bitcoin eine andere Bewegung, die für viele den Ausstieg aus dem Kapitalismus symbolisierte: Die Blockchain-Technologie versprach eine vertrauenslose, dezentralisierte Ökonomie, die ohne Banken, Staaten oder Plattformbetreiber funktioniert.

Doch auch hier zeigt sich: Die Idee eines kollektiven, „kodifizierten“ Vertrauenssystems lässt sich unterwandern. Der DAO-Hack 2016, bei dem Millionen aus dem gemeinsamen Kapitalstock entwendet wurden, war nur ein frühes Beispiel dafür. Aus der alternativen Digitalwährung wurde eine global spekulative Assetklasse. Web3, oft als „Internet des Eigentums“ bezeichnet, setzt auf totale Kommerzialisierung: Alles kann einen Preis haben, alles kann gehandelt werden – selbst digitale Bilder (NFTs) oder Social Tokens.

Hier geht es um die ökonomische Einhegung von Bits und Bytes und ihre Kommerzialisierung auf neuen, sozialen Märkten. Auch hier war das Wir essentiell, das durch Storytelling, Design und soziale Rituale die Grundlage für den Handel dieser neuen Anlageobjekte schuf.

Von der Ökonomie der Daten zur Ökonomie des Wir

In den letzten zwei Jahrzehnten haben wir erlebt, wie Plattformen zum dominanten Modell der digitalen Ökonomie wurden – mit sozialen Netzwerken, Lieferdiensten, Streamingplattformen und Handelsportalen, die unser tägliches Leben durchdringen. Das Versprechen war stets: mehr Effizienz, bessere Vernetzung, smartere Lösungen. Doch je mehr wir unsere Kommunikation, unsere Arbeit und sogar unsere Freizeit an digitale Plattformen ausgelagert haben, desto drängender wird die Frage: Wem gehören diese Plattformen eigentlich – und wem sollten sie gehören?

Let’s Buy Twitter!

Ein Versuch, dieses Verhältnis umzudrehen, kam 2016 vom Medienwissenschaftler Nathan Schneider: Als damals Twitter (heute: X) kriselte, schlug er im Guardian vor: Let’s buy Twitter! – Lasst uns die Plattform übernehmen. Die Nutzer:innen selbst sollten Eigentümer:innen werden. Die Purpose Foundation konkretisierte diesen Vorschlag durch das Modell einer Firmenstruktur, in der Kapitalgeber:innen keine Stimmrechte, aber Dividenden erhalten, während Kontrolle und Mitsprache nach einem gestuften Engagement-Modell verteilt werden sollten. Andere Ideen sahen eine Übernahme durch Crowdfunding vor – unter der Annahme, dass viele Nutzer:innen lieber eine Mitgliedsgebühr bezahlen als ihre Daten verschenken. Der Vorschlag wurde nicht realisiert – aber er öffnete einen neuen Denkraum: Plattformen gehören nicht ihren Entwickler:innen allein – sie gehören auch denen, die sie täglich mit Leben füllen.Sechs Jahre später, 2022, übernahm Elon Musk Twitter und benannte die Plattform in X um. Der Rest ist Geschichte.

Plattform-Kooperativismus: Eine neue digitale Ökonomie

Mit dem Begriff Platform Cooperativism formulierte Trebor Scholz 2015 ein Modell für digitale Plattformen, die ihren Nutzer:innen gehören. Inspiriert von den Ideen klassischer Genossenschaften entstand eine Bewegung, die bestehende Plattformmodelle kopierte und in kooperativer Form von Grund auf neu entwickelte. Geteiltes Eigentum, gemeinsame Steuerung und kollektive Wahrung der Interessen der Arbeitenden bildeten den Kern dieses neuen Unternehmensmodells.

Ausgehend von Plattform-Monopolisten wie Uber entstanden zahlreiche lokale, selbst verwaltete Fahrdienste. Fahrradkuriere begannen sich zusammenzuschließen und den großen Liefer-Services den Rücken zuzukehren. Ausgehend von Airbnb entwickelte sich Fairbnb, ein Kurzzeit-Übernachtungsservice, der allerdings von Stadtverwaltungen und lokalen Gremien gemeinsam organisiert wurde. Mit dem Resonate Music Streaming Collective wurde bereits im Jahr 2017 eine digitale Genossenschaft gegründet, in der Musikschaffende und Fans gemeinsam ihre eigene Plattform betreiben, mit fairem Stream2Own-Bezahlmodell und kultureller Vielfalt. In New York entwickelte sich mit Up & Go die Blaupause einer Genossenschaft von und für Reinigungskräfte, die sich gemeinsam organisierten und soziale Absicherung und faire Bezahlung ins Zentrum ihrer Arbeit rückten. 

In dieser neuen kooperativen, digitalen Ökonomie begann sich das Wir auf der Basis von genossenschaftlichen Strukturen zu organisieren. Es wäre übertrieben, zu sagen, dass diese Kooperativen auch nur annähernd mit der Marktmacht der großen Plattform-Monopole gleichzusetzen wären. Dennoch ist es so, dass Jahr für Jahr mehr dieser Unternehmen und Strukturen entstehen. Das internationale Platform Cooperativism Consortium unterstützt als Knotenpunkt für Forschung, Community-Building und Finanzierung den Aufbau von selbstorganisierten Plattform-Kooperativen auf der ganzen Welt. 

Es werden bereits Accelerator-Programme für Platform Coops aufgesetzt, etwa mit Programmen wie der Start.Coop in den USA oder dem Unfound Accelerator in England. Mit der 2019 von mir mitgegründeten Platform Coops eG wurde der Aufbau kooperativer Platform Coops-Netzwerke über ein Programm des deutschen Wirtschaftsministeriums gefördert. Unter dem Hashtag #GenoDigital! arbeitet ein Zusammenschluss von Aktivist:innen an einer dringend benötigten Digital-und Reformagenda für Genossenschaften, um diese Unternehmensform zugänglicher für innovative Gründungsvorhaben zu machen.

Kollektives Kapital

Die Finanzkrise von 2008 war nicht nur eine Zäsur für die Weltwirtschaft, sondern auch ein Wendepunkt in der Erzählung vom Wir: Ein Begriff, der zunächst Hoffnung auf kollektive Ermächtigung und wirtschaftliche Teilhabe weckte – und doch von den Mechanismen des Kapitalismus absorbiert und ökonomisch verwertet wurde. Die großen Plattformen dieser neuen Ära – ob soziale Netzwerke, Sharing-Dienste oder Blockchain-Infrastrukturen – griffen das Versprechen gemeinschaftlichen Handelns auf, um es in ihre Geschäftsmodelle zu integrieren. Das Wir wurde zu einer Ressource und letztendlich zu einem Mythos, der Vertrauen erzeugen sollte, wo Kontrolle fehlte.

Doch gerade in dieser Dialektik liegt auch eine neue Chance: Denn das kollektive Kapital ist nicht nur jenes, das durch Klicks und Datenströme generiert wird – es ist auch das soziale, politische und gestalterische Potenzial einer vernetzten Gesellschaft, die ihre digitalen Werkzeuge zunehmend versteht, reflektiert und in eigene Strukturen überführt. Als Elon Musk 2022 Twitter übernahm und die Plattform unter dem Namen X zunehmend autoritär umgestaltete, verließen Hunderttausende Nutzer:innen das Netzwerk und wandten sich dezentralen Alternativen wie Mastodon im sogenannten Fediverse zu – ein digitales Ökosystem, das nicht von einem Konzern kontrolliert, sondern von vielen unabhängigen Instanzen gemeinsam getragen wird.

Diese Migration steht exemplarisch für einen wachsenden Wunsch nach digitaler Selbstbestimmung und zeigt, dass das Wir nicht nur als Zielgruppe, sondern auch als handelndes Kollektiv existiert. Der Aufstieg der Plattform-Kooperativen, die Arbeit von Organisationen wie dem Platform Cooperativism Consortium, Platform Coops eG oder Initiativen wie #GenoDigital zeigen, dass ein anderes digitales Wirtschaften möglich ist – eines, das auf demokratischer Mitbestimmung, geteilter Verantwortung und gemeinsamer Wertschöpfung beruht.

Das Wir ist also nicht verschwunden, sondern steht heute mehr denn je zur Disposition: als Projektionsfläche, als Produkt und als politische Praxis. Die Frage ist nicht, ob es das kollektive Kapital gibt – sondern, wer es besitzt, wie es organisiert wird und wofür es eingesetzt werden kann. In diesem Sinne markiert die Geschichte der letzten 17 Jahre nicht nur die zunehmende Finanzialisierung unserer Lebenswelt, sondern auch den Beginn einer neuen Auseinandersetzung darüber, wie wir in Zukunft gemeinsam leben und wirtschaften wollen.

Anmerkung der Autorin: Dieser Artikel ist eine Zusammenfassung des Essays Kollektives Kapital, der vom Bernischen Historischen Museum im Rahmen der Publikationsreihe €$$@¥ V im Jahr 2023 gemeinsam mit der Schweizer Nationalbank herausgegeben wurde.